Wenn, was eine geile after-work-Nummer sein könnte, zu einem ungeilen business case gerät; wenn die Morison-Unternehmensberaterin Ines Conradi auf high heels durch die trostlos-verarmte Ödnis Rumäniens stakst, um dem Land die allerletzten Assets abzuringen; wenn Ines’ Assistentin auf einer Toilette Feedback über ihre Performance einfordert, dann befinden wir uns in der un-heilen, verkorkst-verkoksten Welt von „Toni Erdmann“.
Eine Geschichte, die diese Symbiose von Privatem und Politisch-Ökonomischem aufzeigt, die darlegt, wie der Neoliberalismus sich bis in die verborgensten Winkel der Gesellschaft durchgefressen, wie er unser gesamtes Leben gehijackt hat, ist politisch, auch wenn ein Vater-Tochter-Konflikt im Zentrum steht. Der Film „Toni Erdmann“ ist sogar hochpolitisch, auf wunderbar unaufdringliche Weise, mit einer gesalzenen Dosis Anarchie, viel Understatement und einem zum Niederknien begnadeten Personal.
„Bist du eigentlich ein Mensch“ fragt der sympathisch gschlamperte, unbürgerliche Musiklehrer Winfried Conradi seine Tochter Ines, und war noch nicht mal Zeuge ihrer erotischen Verabredung mit dem Kollegen/Lover Tim, der mit ein paar Worten Ines so abtörnt, dass sie auf Governance umschaltet, ihn alleine lässt mit einer Zielvorgabe und einem incentive-Versprechen. Tim muss leisten und liefern während Ines mit Monitoring beschäftigt ist. Am Ende evaluiert sie das Ejakulat. Eine Szene, die weder Teamspirit stärkt noch Teambuilding befördert – was Tim mit einem „Mann, bist du bescheuert“ adäquat quittiert.
Vater Conradi stalkt indessen seine Tochter in Bukarest, vorzugsweise mit falschen Zähnen, Haaren und Visitenkarten. Man kennt Väter, die ihr süchtiges Kind dem Drogenkiez entreißen wollen; dieser Vater, will sein karrieresüchtiges Kind vor dem Raubtier Kapitalismus retten.
Er startet bescheiden mit einer trendigen Designer-Käsereibe und einem Spaghetti-Gericht. Als Toni Erdmann bringt er sie vor ihren Kollegen in peinlichste Situationen, legt sie in Handschellen, klopft sie solange weich, bis sie es sich gefallen lässt, von ihm zu wichtigen Verhandlungen begleitet zu werden, ja sogar nicht einmal protestiert, wenn er sie als seine Sekretärin Miss Schnuck vorstellt.
Zum Beispiel bei einer rumänischen Großfamilie, die sich zum Ostereier anmalen versammelt hat. Toni Erdmann nötigt seine Tochter zum Singen. Er setzt sich an ein Tasteninstrument und stellt sie als „Whitney Schnuck“ vor. Ines sieht ihn an als würde sie ihm gleich an die Gurgel gehen. Aber sie singt. Sie singt um ihr Leben. No matter what they take from me, they can’t take away my dignity. Und der Vater begleitet sie nicht nur mit dem Klavier und seinen ermutigenden Go-for-it-Blicken, er begleitet sie auch dabei, wieder auf den Boden des Menschseins zurückzukommen.
Well done, Toni Erdmann. Er hat etwas erreicht. Auf ihrer Geburtstagsparty empfängt sie die Gäste nackt; ihr erwachender Anarchismus hat sich eine eigene Form gesucht: der Vater verkleidet sich, die Tochter zieht sich aus. Winfried Conradi taucht als Kukeri auf, einer Figur, die böse Geister austreibt. Ines hat verstanden.
Gemischte Gefühle am Schluss. Nein, Ines Conradi schult nicht auf Sozialarbeiterin um (nicht dass man so etwas sehen möchte!). Im Gegenteil: sie geht zu McKinsey.
Vater Conradi hat sein Bestes gegeben, mehr kann er nicht tun. Mach was draus, Ines.
Brillant rasant geschriebene Zusammenfassung des Films, der zurecht mit so vielen Preisen ausgezeichnet wurde.
Manche Feinheiten und Zusammenhänge von „Toni Erdmann“ werden einem erst nach Lesen dieses Artikels klar,
man fühlt sich bereichert, danke, Pique Dame!
Deshalb: unbedingt lesen!